Aktuelles

29.08.2024

Offener Brief von ACHSE Abberufung Vorsitzender KV Sachsen 

Sehr geehrte Mitglieder der KV Sachsen,

aus gegebenen Anlass fordern wir die sofortige Abberufung von Dr. Klaus Heckemann aus dem Amt als Vorstandsvorsitzendem Ihrer KV.

 

Im Editorial der KVS-Mitteilungen 05-06/2024 hat Herr Dr. Heckemann in seiner Funktion als Vorsitzender Ihrer KV die Befürchtung geäußert, dass die in den letzten Jahren erlangten Fortschritte in der genetischen Diagnostik bei gleichzeitiger Reduzierung der Kosten zu einem Anstieg an humangenetischen Untersuchungen bei schweren erblichen Krankheiten führen und damit die gesetzlichen Krankenkassen finanziell überfordern könnten – auch weil diagnostizierte Patientinnen und Patienten auf diesem Wege Zugang zu geeigneten, ggf. hochpreisigen Therapien, wie Gentherapien, erlangen könnten. Er fordert eine strenge Indikationsstellung, Mitverantwortung der Ärzte, die die genetischen Untersuchungen vornehmen, Transparenz bei der Leistungserbringung. Damit die Kosten der Mutationssuche „drastisch reduziert“ werden können, beschreibt er eine Zukunftsvision, in der Frauen mit Kinderwunsch eine „komplette Mutationssuche nach allen autosomal-rezessiven vererbbaren schweren Erkrankungen“ angeboten wird. Liege bei beiden Elternteilen ein positives Ergebnis vor, könne mit der sich anschließenden In-Vitro-Fertilisation und Präimplantationsdiagnostik das „Risiko der Geburt eines schwerstkranken Kindes ausgeschlossen werden“. Auf diesem Weg, den er als „Eugenik in ihrem besten und humansten Sinne“ bezeichnet, solle zum einen den Betroffenen Leid, eingeschränkte Lebenszeit und Lebensqualität, zum anderen der GKV Kosten erspart werden.

Wir, die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) e.V., vertreten als Dachorganisation gemeinsam mit unseren Mitgliedern, den über 140 krankheitsspezifischen Patientenorganisationen, die Interessen der Betroffenen mit chronischen seltenen Erkrankungen unterschiedlichen Alters. Die meisten dieser in der Regel schweren Erkrankungen haben eine genetische Ursache.

Vor dem Hintergrund der NS-Verbrechen an Menschen mit Behinderungen und kranken Menschen sind diese Äußerungen, die einer „Eugenik von oben“ das Wort reden, insbesondere geäußert in seiner Funktion als Vorsitzender der KV Sachsen, mehr als untragbar und auf die schmerzlichste Weise mit der ärztlichen Ethik unvereinbar. Auch haben der Vorsitzende persönlich sowie die KV Sachsen als ärztliche Institution die Regelungen der Deklaration von Genf des Weltärztebundes  einzuhalten. Diese besagt unter anderem: „Ich werde den höchsten Respekt vor menschlichem Leben wahren.“

Wir als Gesellschaft verantworten die Rahmenbedingungen, die darüber entscheiden, was die Lebensqualität aller unserer Mitmenschen, auch mit Behinderung oder chronischer Erkrankung, ausmacht. Wir betrachten es als Aufgabe der Kassenärztlichen Vereinigungen und der entsprechenden medizinischen Fachverbände, ihre niedergelassenen Mitglieder in die Lage zu versetzen, zum richtigen Zeitpunkt die Indikation für eine genetische Diagnostik stellen zu können und dann die Patientinnen und Patienten den passenden Einrichtungen zur Durchführung der Diagnostik zuzuführen. Beispielhaft sei an dieser Stelle der Medizinische Dienst Bund aufgeführt, der für seine Gutachterinnen und Gutachter seit einigen Jahren ein mehrtätiges Genetikseminar als Fortbildungsmaßnahme eingeführt hat.

Darüber hinaus wäre viel gewonnen, wenn die Kolleginnen und Kollegen in der Niederlassung das Angebot der 37 universitären Zentren für Seltene Erkrankungen, sich auch Patientinnen und Patienten mit noch unklarer Diagnose annehmen, wahrnehmen und nutzen würden. Leider hat auch nach zahlreichen Awareness Maßnahmen eine ernüchternde Zahl von Ärztinnen und Ärzten immer noch keine Kenntnis über die Angebote und Aufgaben dieser Zentren für Seltene Erkrankungen, wie die aktuelle Erhebung des BMG aus 2023 belegt . Dies ist mit der wichtigen Rolle von Primärversorgern aus unserer Sicht nicht vereinbar.

Eltern haben heute schon die Möglichkeit, pränatale Diagnostik in Anspruch zu nehmen und sich im Rahmen einer genetischen Beratung darüber zu informieren, ob bei ihrem Kind eine krankheitsrelevante genetische Veränderung vorliegt und welche Auswirkungen diese hat – und daraus dann Schlüsse/Handlungen abzuleiten.

Herr Dr. Heckemann maßt sich an, über die Lebensqualität von Betroffenen von schweren genetischen Erkrankungen zu urteilen und sich darüber zu erheben. Von unseren Mitgliedern wissen wir: Es sind nicht per se die mit den Erkrankungen einhergehenden körperlichen Beschwerden, Einschränkungen und Behinderungen, die das Leid für die Patientinnen und Patienten und ihre Familien ausmachen und ihre Lebensqualität einschränken. Es sind nicht zuletzt Artikel wie der von Dr. Heckemann, die neben ökonomischen Zwängen und den andauernden, zermürbenden Kämpfen darum, gesetzliche Ansprüche in unserem komplexen Gesundheitssystem geltend zu machen und berechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu erlangen, die die Betroffenen als unwürdig und degradierend empfinden.

Wir halten die zitierte breit angelegte Mutationssuche für falsch. Bei einer solchen würden Mutationen nicht, wie beschrieben, in Ausnahmenfällen, sondern regelhaft gefunden werden, weil jeder Mensch solche klinisch unauffällige Anlagen für schwere rezessive Erbkrankheiten in sich trägt! Dies hätte eine große Verunsicherung bei den Betroffenen zur Folge. Daraus würden ein enormer Beratungsbedarf und Kosten resultieren. Die Frage, wie eine „schwere“ Erkrankung zu definieren wäre, bleibt dabei ungelöst.

Die immensen Kosten der vorgeschlagenen In-Vitro-Fertilisation und Präimplantationsdiagnostik (PID) werden genauso wenig diskutiert, wie deren fragliche Erfolgsrate und die damit einhergehenden leidvollen psychischen Belastungen für die Eltern.

Was uns jenseits dieser kolossalen Fehleinschätzung aber besonders betroffen macht, ist die Vision Ihres Vorsitzenden, dass die breite Anwendung der genetischen Diagnostik „Eugenik in ihrem besten und humansten Sinn“ sei. Dieser Begriff stammt aus der pseudowissenschaftlichen Rhetorik des letzten und vorletzten Jahrhunderts und hat in einer modernen Medizin nichts zu suchen.

Es ist den besonderen Fortschritten und technischen Entwicklungen in der human-genetischen Diagnostik zu verdanken, dass die mit einer Seltenen Erkrankung oft einhergehende und teilweise jahrelang andauernde Phase der „unklaren Diagnose“ entscheidend verkürzt wird. Patientinnen und Patienten müssen so nicht mehr die große Unsicherheit, Verzweiflung, zahlreichen Arztbesuche, Fehldiagnosen und -therapien erleiden, und sie können früher von geeigneten therapeutischen Maßnahmen profitieren. Für die ca. 8.000 Seltenen Erkrankungen gibt es bisher nur 150 sog. Orphan Drugs, also krankheitsspezifische Medikamente. Auch hierbei profitieren Betroffene von neuen Entwicklungen, wie Gen- und Zelltherapien, die zweifellos hochpreisig sind. Dies tun aber auch die weitaus zahlreicheren Patientinnen und Patienten mit häufigen genetischen Tumorerkrankungen, denen im Zuge von personalisierter Medizin elaborierte Therapien zuteil werden.

Dem Wirtschaftlichkeitsgebot der GKV entsprechend erfolgt die Indikationsstellung zur Abklärung einer Seltenen Erkrankung oder einer unklaren Diagnose mit Verdacht auf eine Seltene Erkrankung an den in die universitären Zentren für Seltene Erkrankungen eingebundenen Humangenetischen Instituten seit 2021 nach einem mit vielen Krankenkassen abgestimmten strikten und bereits bewährten strukturierten Patientenpfad, im Rahmen interdisziplinärer Fallbesprechungen. Dieser wird auch im Modellvorhaben §64 e SGB V zukünftig so fortgeführt.

Aus den vorgenannten Gründen halten wir Herrn Dr. Heckemann für nicht tragbar im Amt des Vorsitzenden der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen. Er sollte unverzüglich abberufen werden oder zurücktreten.

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